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Schülerinnen und Schüler zeigen vor blauem Hintergrund den Daumen nach oben

Erfahrungsbericht

Jannik findet seine Schule

Eine Familie und ihr hörgeschädigtes Kind

Als Elvira Nelles mit 29 Jahren ihr zweites Kind erwartete, ging alles nach Plan - wie zuvor bei dem inzwischen knapp zweijährigen Kilian. Aber als die junge Mutter ihren kleinen Jungen zum ersten Mal im Arm hielt, erlebte sie einen Schock. „Ich sah sofort, dass etwas nicht stimmt", erinnert sich Frau Nelles. Die Finger beider Händchen waren zusammengewachsen; auch die Augen, das ganze kleine Gesicht erschien nicht „normal". Stukkateurmeister Michael Nelles stand seiner Frau zur Seite, die Ärzte erlebte das Ehepaar als „unprofessionell". „Wir wurden immer nur beruhigt. Die Hände könnten wir operieren lassen, wenn das Kind sechs Jahre alt ist".

Die Eltern setzten eine Operation schon mit sechs Wochen durch. So wurden Janniks Hände voll beweglich, kein Außenstehender bemerkt, dass die Finger operativ getrennt werden mussten. Die nächste Zeit in Janniks Leben war geprägt vom Kampf der Eltern um ihr Kind: Sie glaubten keinen Beschwichtigungen, konsultierten alle möglichen Ärzte und wandten sich an die Lebenshilfe. Hier bekamen sie im Rahmen der Frühförderung fachliche Unterstützung, die umso notwendiger war, je deutlicher bei dem Kleinen das Down-Syndrom zu Tage trat. Auch eine Hörbehinderung machte sich bemerkbar: „Wenn jemand in sein Zimmer kam, reagierte er nicht", erzählt Elvira Nelles.
Die Universitätsklinik Köln riet dem Ehepaar Nelles, zu Hause im Eifelort Marmagen bei Nettersheim, die Frühförderung der Rheinischen Schule für Hörgeschädigte (heute: LVR-Max-Ernst-Schule) in Euskirchen einzuschalten. Mutter und Frühförderinnen absolvierten gemeinsam ein Übungsprogramm für Jannik, das gleichzeitig seine Muskelkontrolle – die „heraushängende Zunge" verschwand durch eine Gaumenplatte – seine Hörreste und die Sprachfähigkeit schulte. Dennoch: „Für uns war es schwer, uns einzugestehen, dass unser Kind behindert ist", berichtet Frau Nelles über diese Zeit. Das Eis gebrochen hätte Kilian, der ältere Bruder: „Als die Kinder beim Bäcker Brötchen bekamen und Jannik weder richtig greifen noch schlucken konnte, sagte Kilian zu einer Kundin, die uns anstarrte: 'Da guckste, mein Bruder ist behindert und er hat eine Gaumenplatte!'"

Mit vier Jahren kam Jannik in einen integrativen Kindergarten, wo er durch seinen Bewegungsdrang die Mitarbeiterinnen auf harte Proben stellte. Als er zum Kindergarten für geistig Behinderte in Sötenich gewechselt war, half ihm dort der feste, regelmäßige Tagesablauf, Regeln zu akzeptieren und sich in der Gruppe einzufügen. Hier wie in der Schule für geistig Behinderte in Kall, in die er mit sieben Jahren kam, gab es aber keine Fortschritte im Sprechen, trotz stetiger Logopädie.
Die Lehrerinnen in Kall rieten uns zur Hörgeschädigtenschule in Euskirchen, und da hat Jannik jetzt die richtige Schule gefunden", freut sich Frau Nelles. Die Klasse hat nur vier Kinder, Jannik lernt Gebärdensprache. „Die lernt er unheimlich schnell, und er ist aufgeblüht, seitdem er sich verständigen kann." Die Eltern absolvierten einen Kursus, und auch der Bruder verständigt sich darin. Gleichzeitig werden Hör- und Sprachvermögen gestärkt, Jannik kann schon viele Wörter. Im Internat, wo er seit einem Jahr vier mal in der Woche schläft, hat er sich gut eingelebt, obwohl die ganze Familie anfangs das Heimweh plagte.
„Er ist selbstständig geworden, und er ist nicht mehr aggressiv, seit er sich austauschen kann", sagt Frau Nelles zur Entwicklung des Kindes. Was dem fremden Besucher der Familie auffällt: Jannik ist ein offener, fröhlicher Junge, der heranwächst mit allen Chancen, die gemeinsamer Einsatz von Elternhaus und Schule ihm eröffnen.

Maria Heer